Im Rahmen der Jahresausstellung Zentralschweizer Kunstschaffen 2015 ging der Jurypreis, der unter anderem den Ankauf eines Werkes aus dem Atelier der Künstlerin für die Sammlung des Kunstmuseums Luzern beinhaltet, an Sandra Schindler (*1976). Die Preisträgerin schafft beispielsweise ausgehend von Materialien, die sie auf den Strassen von London findet, fiktive Schlafplätze, die sie fotografisch dokumentiert. Die daraus resultierende Diainstal¬lation Bed Series (2015, fortlaufend) überzeugt die Jury aufgrund ihrer Aktualität in Zeiten, in denen Millionen heimatlos sind.
Ebenfalls von den Strassen der englischen Metropole inspiriert ist die Serie Liebe Grüsse von 2010. Aus einer Vielzahl von Wandarbeiten bestehend – drei davon gehören nun zur Sammlung des Kunstmuseums Luzern – stellt die Serie das Augenblickliche eines Tags, das in wenigen Sekunden gezeichnet ist, der zeitintensiven Arbeit des Paillettenstoffnähens gegenüber. «Nok», «Utek» oder «Seli» sind Tags, die Schindler in London an Wänden im öffentlichen Raum, auf Toiletten oder in städtischen Transportmitteln findet und ablichtet. Oft nur vier bis fünf Buchstaben lang dienen Tags der Verbreitung der Namen der Graffitikünstlerinnen und -künstler. Den Ursprung hat das Taggen in New York in den späten 1960er-Jahren als ein gewisser TAKI 183 anfängt, seinen Namen in der ganzen Stadt zu verbreiten. Spätestens als die New York Times mit dem Artikel TAKI 183 Spawns Pen Pals 1971 darüber berichtet, be¬gin-nen Jugendliche, ihn zu kopieren, darunter auch ein selbsternannter «Samo» (gesprochen «same oh», was für «same old» steht), der später von Andy Warhol gefördert zum gefeierten Maler wird und heute als Jean-Michel Basquiat bekannt ist. Aus dieser Bewegung heraus entsteht auch das Graffiti, das damals noch Subkultur, heute aber längst im Mainstream angekommen ist, in Galerien gehandelt und von der Stadtentwicklung punktuell zur Urbanisierung von Quartieren eingesetzt wird. Ähnlich verhält es sich mit den Tags. In Zeiten der digitalen Distribution von Inhalten, in denen ein Bild oder ein Video in wenigen Stunden um die Welt gehen kann, hat ein Tag im öffentlichen Raum, sei es noch so oft und dreist gesetzt, nur noch wenig Strahlkraft. Will Schindler uns mit Liebe Grüsse sagen, dass es an der Zeit ist, das Taggen ins Museum zu hängen?
Sie erschafft eine Vielzahl von Tags, ausgehend von ihren Fotografien, als Pailletten-Reliefs, die nun um die Wette glänzen und funkeln. So ermöglicht die Künstlerin einer Bewegung, die Gefahr läuft in Vergessenheit zu geraten, ein erneutes Aufleuchten im musea¬len Kontext. Mit ihren rot, grün und blau schimmernden Oberflächen schreien ihre Tags förmlich nach Aufmerksamkeit, wobei die Art und Weise, wie sie genäht sind, der Lesbarkeit nicht zu Gute kommen. Autorenschaft wird in dem Fall zweitrangig, die Verbreitung von Namen und der Transport von Inhalten hinfällig, vielmehr geht es hier um die pure Oberfläche – eine globale Tendenz, die in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen ist, wie sich beispielsweise an zeitgenössicher Architektur, der Produkte-Werbung oder auch im Bereich der Medientechnik nachvollziehen lässt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Schindler mit ihrer Arbeit diese Entwicklung kritisiert oder feiert. Eine Ambivalenz, die der ursprünglichen Jugendbewegung gänzlich abging, da diese vor allem eines wollte: die grauen Flächen angreifen und brechen und sich dabei gleich auch dafür mit den eigenen Namen, wenn auch erfundenen, verantworlich zu zeigen.
Claudio Vogt